„Rechte für Care Leaver stärken“ – Positionspapier zur SGB VIII-Reform
Das Bundesnetzwerk Care Leaver Initiativen möchte im Folgenden zu dem am 05.10.20 veröffentlichten Referentenentwurf des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) Stellung beziehen. Die Stellungnahme des Bundesnetzwerkes richtet sich dabei ausschließlich an Veränderungen zu den §§ 27, 36, 37 und 41 des Achten Buches Sozialgesetzbuch/Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII).
In den vergangenen Jahren hat sich insbesondere in der erzieherischen und sozialpädagogischen Praxis gezeigt, dass die Übergänge aus stationären Jugendhilfeangeboten (Heimunterbringung) sowie aus Pflegefamilien für die Betreffenden nicht nur neu gewonnene Freiheiten und Selbstbestimmung bedeuten. Viel mehr noch erwartet sie gleichermaßen ihr Monopol auf eine „eigenverantwortliche Lebensführung“ (§ 41 VIII SGB).
In den vergangenen zehn Jahren fand insbesondere die Gestaltung dieses Übergangs von Jugendlichen und jungen Erwachsenen unter dem Begriff „Care Leaver*innen“ (zu Deutsch „Hilfeverlasser*innen“) auch zunehmend fachlichen Diskurs. Studien haben gezeigt, dass junge Menschen aus öffentlichen Erziehungshilfen den Übergang in die Selbstständigkeit vermehrt unter sozialer und materieller Benachteiligung meistern müssen. Nach dem Theoriemodell von Lothar Böhnisch ist ergänzend anzuführen, dass dieser Übergang in das sog. Erwachsenenleben bereits als eigene Lebensphase einzuordnen ist. Im Vergleich zu Gleichaltrigen können Care Leaver*innen dabei nur auf weniger vergleichbare Ressourcen zurückgreifen. Deshalb ist besonders die Gestaltung von Unterstützungsmaßnahmen durch Mitbestimmung, Teilhabe an Entscheidungsprozessen und Erhalten von Anerkennung von enormer Bedeutung.
Wir fordern daher, dass Care Leaver*innen auch über die Volljährigkeit hinaus Unterstützung vom Jugendamt erhalten müssen.
Das Bundesnetzwerk Care Leaver Initiativen hat sich im September 2017 als Netzwerk aus über 50 Personen und Projekten, die Angebote für Care Leaver bereithalten oder diese planen, zusammengeschlossen. Ziel des Bundesnetzwerkes ist es, den Austausch zwischen Care Leaver-Initiativen zu fördern, auf die Belange und Lebenssituation sozialpolitisch aufmerksam zu machen und dadurch zur Verbesserung der Situation Leaving Care beizutragen.
Daher möchten wir uns durch die im Folgenden angeführten Anmerkungen in die Diskussion dieser beabsichtigten SGB VIII-Reform zu den o.g. Punkten einbringen. Vor diesem Hintergrund freuen wir uns sehr, dass die Vorschläge zu den Neuformulierungen des Achten Buches Sozialgesetzbuch nun endlich vorliegen.
Die nachfolgenden Positionen und Forderungen hinsichtlich der Gestaltung des Übergangs für junge Menschen aus der Jugendhilfe erachtet das Bundesnetzwerk als zentral:
Der Gesetzgeber würde mit den vorgesehenen Anpassungen zu Selbstvertretungen (§ 4a sowie Bezugnahme u.a. in §§ 45, 71(2), 78 VIII SGB) und der Ombudschaft in § 9a VIII SGB ein deutliches Signal zur Stärkung entsprechender Strukturen senden, was wir sehr begrüßen.
Die Entwicklung hinsichtlich der absinkenden Kostenheranziehung ist durchaus positiv zu bewerten, wobei wir uns selbstverständlich für deren komplette Abschaffung aussprechen. Auch der breite Beratungsanspruch, der in § 10a VIII SGB formuliert wird, ist ebenfalls positiv hervorzuheben.
Es ist zu begrüßen, dass die Rechte von Hilfesuchenden durch ein flexibel kombinierbares Leistungsangebot bestärkt werden (§ 27 (2), S. 3).
Mit den Anpassungen zu den Hilfen für junge Volljährige wird deutlich, dass der Gesetzgeber den Bedarf erkennt und gewillt ist, entsprechende Veränderungen vorzunehmen. Besonders anerkennend bewerten wir die Rückkehroption in § 41(1) VIII SGB, die gegenwärtig eine zentrale Forderung des Bundesnetzwerks ist. Die Veränderung in § 41(3) VIII SGB schätzen wir als Verständnis der aktuell vorhandenen Probleme und unzureichenden Regelungen beim Verlassen der Hilfen ein. Jedoch vertreten wir die Position, dass die vorgeschlagenen Abänderungen diese Problematik nicht gänzlich beheben würde. Aus diesem Grund vertreten wir weiterhin die Forderung nach einer bleibenden fallführenden Zuständigkeit des Jugendamts bis zum 27. Lebensjahr. Die Nachbetreuung hingegen sehen wir durch den neuen § 41a VIII SGB gestärkt, auch wenn dieser zu unkonkret formuliert bleibt. Wir wünschen uns angesichts der gesellschaftlichen Anforderungen an junge Erwachsene eine Nachbetreuung, die erst beendet wird, wenn der junge Mensch dies explizit wünscht (wie bspw. in England praktiziert).
Darüber hinaus möchten wir, durch die im Weiteren angeführten Anmerkungen, unsere Sorge darüber zum Ausdruck bringen, dass der Referentenentwurf an den im Folgenenden benannten Stellen zu Absenkungen von Leistungsansprüchen führen könnte:
Das Wunsch- und Wahlrecht nach § 36 VIII SGB, welches sich auf die Auswahl einer Einrichtung oder Pflegestelle bezieht, wird in § 36 (1) S. 3 – 5 VIII SGB gestrichen. Die Regelung taucht zwar im Entwurf in § 37c VIII SGB wieder auf, allerdings bleibt die Intention dieser Verschiebung unklar. Daher kommen wir zu dem Entschluss, dass eine Umsetzung, bzw. die angedachte gesetzliche Neufassung, das Wunsch- und Wahlrecht dergestalt entkräftigt, dass Aufmerksamkeit und Durchsetzungskraft entfielen. Wir regen an, dass die Regelung im § 36 VIII SGB verortet bleibt oder an dieser Stelle explizit darauf verwiesen wird.
Ferner wird nach dem Referentenentwurf der erste Absatz des § 41 VIII SGB dahingehend umgestellt, dass zunächst gänzlich auf die Formulierung „Einem jungen Volljährigen soll Hilfe […] gewährt werden […]“ verzichtet wird. Weitergehend wird „soll“ durch „erhalten“ ersetzt. Dadurch besteht die Gefahr, dass aus der bisherigen objektiven Rechtsverpflichtung mit individuellem Leistungsanspruch eine sog. Kann-Leistung würde. Der Wortlaut allein ist hier nicht eindeutig, was für die Rechtsdurchsetzung eine erhebliche Gefahr bärge. Wir fordern an dieser Stelle eine Formulierung, die keine Fehlinterpretation zulässt! Unser Vorschlag lautet daher, „Ein junger Volljähriger muss Hilfe erhalten, …“.
Nach der aktuellen und gültigen Fassung des Sozialgesetzbuchs heißt es, dass „[…] Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden […]“ soll. In der Neufassung heißt es „[…]wenn und solange ihre Persönlichkeitsentwicklung eine eigenverantwortliche, selbständige und selbstbestimmte Lebensführung nicht gewährleistet“ (§ 41 (1) SGB VIII neu). Danach würde eine fehlende Persönlichkeitsentwicklung, fehlende Eigenverantwortlichkeit sowie nicht selbstbestimmte Lebensführung zu ausschlaggebenden Bedingungen werden, um eine Hilfe für junge Volljährige erhalten zu können. Damit könnte einhergehen, dass zunehmend noch weniger Hilfen für junge Volljährige gewährt werden würden. Zudem würde diese Veränderung die Vorrausetzungen verschärfen und gleichzeitig den Anspruch auf eine individuell ausgerichtete Hilfe einschränken. Außerdem weisen wir darauf hin, dass bspw. eine selbstbestimmte Lebensführung nicht bedeutet, dass eine Hilfe bzw. Unterstützungsmöglichkeit durch Jugendhilfeleistungen hinfällig wird. Schließlich müssen Care Leaver*innen, im Vergleich zu Gleichaltrigen, die in ihrem Elternhaus groß werden, zwar dieselben Herausforderungen meistern, können dabei aber auf weniger Ressourcen zurückgreifen. Daher sind unserer Meinung nach weitere Leistungen zur Unterstützung unabdingbar. Anderenfalls würde die Gesetzgebung Benachteiligungen bzw. gesellschaftliche Ungleichheiten fördern. Das würde dem Ziel des Abbaus von Benachteiligungen nach § 1 SGB VIII widersprechen.
Ergänzend ist festzustellen, dass der aktuelle Referentenentwurf weiterhin die Altersgrenze von i.d.R. 21 Jahren für den Erhalt von Jugendhilfeleistungen normiert. Damit ist es ausgeschlossen den gesellschaftlichen Entwicklungen, hinsichtlich der immer länger andauernden Jugendphase, gerecht zu werden. Der aktuelle Durschnitt gleichaltriger junger Erwachsener, die aus ihrem Elternhaus ausziehen liegt laut 15. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung bei rund 25 Jahren. Demzufolge sollte das Anspruchsalter diesem Erkenntnisstand angepasst werden. Wir fordern darüber hinaus eine Nachbetreuung, die erst beendet wird, wenn der junge Mensch dies explizit wünscht.
Bei den angedachten Regelungen im § 41 (3) VIII SGB sehen wir das Bemühen, den Übergang für junge Menschen aus Hilfen der Jugendhilfe gelingender zu gestalten. Allerdings gelingt dies über den Weg voraussichtlich nicht, dass bereits ein Jahr vor der offiziellen Hilfebeendigung andere Sozialleistungsträger hinzugezogen werden sollen. Eher lädt dies unserer Ansicht nach zu verfrühten Hilfebeendigungen ein: Häufig ist es nicht absehbar, dass innerhalb des kommenden Jahres eine Hilfe beendet werden kann. Außerdem ist es nicht absehbar, dass die anderen Sozialleistungsträger sich tatsächlich einbinden lassen – auch sprechen diese Ämter unterschiedliche Sprachen (z.B. der Begriff von „Mitwirkung“). Darüber hinaus ist die Frage, was im Verlaufe des letzten Jahres geschieht, wenn sich doch wieder ein erhöhter Bedarf einstellt. Und letztlich ist es auch datenschutzrechtlich fragwürdig, wenn andere Sozialleistungsträger aus dem Hilfeplanverfahren höchstsensible Informationen erhalten, die für die Gewährung von Sozialleistungen gar nicht relevant sind. Es wäre stattdessen sinnvoll, nach dem Grundsatz zu handeln: Unterstützung bis mindestens zum Abschluss des ersten berufsqualifizierenden Abschlusses und kein erzwungenes Hilfeende gegen den Wunsch des jungen Menschen. Bis dahin muss die Jugendhilfe zuständig bleiben.
Zudem wünschen wir uns für den § 41a VIII SGB statt „werden […] beraten und unterstützt“ die eindeutige Formulierung „müssen […] beraten und unterstützt werden, um den Verpflichtungsgrad der Regelung zu erhöhen.“
Wir stehen für Rückfragen gerne zur Verfügung und sind gerne bereit an konkreten Überlegungen der Umsetzung dieser Forderungen mitzuarbeiten.
Kontakt:
Wir sind unter folgenden E-Mail-Adresse erreichbar: info@CareLeaverinitiativen.de
Aktuelle Sprecher*innen:
Katharina Höffken
Katarzyna Trampe-Plooij
Björn Redmann