Rechte für Care Leaver stärken – Positionspapier zur SGB VIII-Reform
Positionspapier zur SGB VIII-Reform
Bundesnetzwerk Care Leaver Initiativen
„Rechte für Care Leaver stärken“
27.11.2019
Das Positionspapier als PDF ansehen
Care Leaver sind junge Erwachsene, die einen Teil ihrer Kindheit und Jugend in stationären Hilfen zur Erziehung verbracht haben, d.h. sie haben in Wohngruppen, Heimen und/oder Pflegefamilien gelebt. Inzwischen sind sie aus den Einrichtungen ausgezogen und sind auf dem Weg in ein eigenständiges Leben. Dennoch muss auch klar sein, dass junge Menschen, die häufig mit weniger familiärer Unterstützung den Schritt ins Erwachsenenleben bewältigen müssen, auch über die Volljährigkeit hinaus Unterstützung vom Jugendamt erhalten müssen.
Das Bundesnetzwerk Care Leaver Initiativen hat sich im September 2017 als Netzwerk aus über 50 Personen und Projekten, die Angebote für Care Leaver bereithalten oder diese planen, zusammengeschlossen. Ziel des Bundesnetzwerkes ist es, den Austausch zwischen Care Leaver Initiativen zu fördern, sich fachpolitisch für die Belange von Care Leavern einzusetzen und dadurch zur Verbesserung der Situation Leaving Care beizutragen.
In diesem Zusammenhang bringen wir uns mit diesem Positionspapier auch in die aktuellen Diskussionen der SGB VIII-Reform ein. Wir begrüßen sehr, dass die Diskussionen erneut aufgenommen wurden und das Kinder- und Jugendhilfegesetz neben einer Stärkung von Rechten der Herkunftseltern auch die Themen des Übergangs aus der Kinder- und Jugendhilfe stärken will. Es ist uns als Bundesnetzwerk Care Leaver Initiativen ein großes Anliegen diesen Übergang im Sinne der jungen Menschen zu gestalten und zu verbessern.
Mit diesem Papier beziehen wir in Bezug auf den Reformprozess des SGB VIII gemeinsam Position. Die nachfolgenden Forderungen hinsichtlich der Gestaltung des Übergangs für junge Menschen aus der Jugendhilfe erachtet das Bundesnetzwerk als zentral:
Rechtsanspruch Leaving Care anerkennen und gewährleisten!
Bislang ist der § 41 SGB VIII eine „Soll“-Bestimmung und wird eher in Ausnahmefällen gewährleistet. Die jungen Erwachsenen sind in der Position der „Bittsteller*innen“, um weiter eine Unterstützung zu bekommen.
Zunächst muss eine Hilfe für junge Volljährige von einer „Soll“-Bestimmung zu einer „Muss“-Bestimmung werden. Der*die junge Erwachsene muss einen Rechtsanspruch auf bedarfsgerechte Hilfen haben, der auch über das 18. bzw 21.Lebensjahr hinaus gilt. Dabei muss es auch möglich sein, ohne vorherige Hilfen im Rahmen des SGB VIII eine Hilfe über den §41 SGB VIII zu erhalten, um auch sogenannte „family leaver“ zu unterstützen und junge Erwachsene im Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe zu unterstützen und nicht in andere Sozialsysteme abzudrängen.
Verbunden damit ist generell die Notwendigkeit, dass Kinder- und Jugendhilfe für die jungen Menschen, die sie einst betreut hat, zuständig bleibt. Damit einher geht eine Rückkehroption für junge Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – die Hilfe beendet haben und merken, dass nochmals eine Hilfeleistung notwendig ist.
Darüber hinaus ist es eine zentrale Anforderung, das Leaving Care bereits während der Hilfemaßnahme fachlich auszugestalten. Zur Vorbereitung und Begleitung des Übergangs müssen fachliche und konzeptionelle Überlegungen für eine Übergangsplanung entwickelt und umgesetzt werden. Ein Konzept für eine Übergangsplanung im Sinne eines gelungenen Leaving Care Prozesses muss obligatorisch für die Erteilung einer Betriebserlaubnis sein.
Eine Infrastrukturentwicklung für junge Erwachsene, die im Übergang in die Selbständigkeit Unterstützung und Begleitung benötigen, schafft nicht nur Angebote für Care Leaver, sondern hat Auswirkungen auf alle Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die in solchen herausfordernden Übergängen niedrigschwellige Beratungsangebote benötigen. Hier können – neben den Hilfen nach einem weiterentwickelten §41 SGB VIII – insbesondere Angebote der Jugendsozialarbeit nach §13 SGB VIII wichtige Beiträge leisten.
Zuständig bleiben!
Bislang wird mit Austritt aus der Jugendhilfemaßnahme die Fallarbeit beendet und die Akte archiviert. Dabei kommt es vor, dass im Anschluss an die Jugendhilfemaßnahme der*die junge Erwachsene von anderen Sozialsystemen Unterstützung erhält.
Die fallführende Zuständigkeit für die jungen Menschen muss bis zum 27. Lebensjahr beim Jugendamt liegen, auch wenn sie Angebote anderer Sozialleistungsträger in Anspruch nehmen. Dabei kann es auch sein, dass der*die junge Erwachsene zunächst keine weitere Hilfen in Anspruch nehmen will/muss. Dennoch bedarf es der weiteren Zuständigkeit und das Interesse daran, was aus den jungen Menschen wird. Ein vielfältiges Unterstützungsnetz in der Zusammenarbeit verschiedener Kooperationspartner*innen (Beratungsstellen, Jobcenter, Psychiatrie) ist dabei notwendig.
Eine Rückkehroption (wie im Punkt zuvor gefordert) ist in dieser Logik obligatorisch bzw. ist qua „zuständig bleiben“ als grundlegendes Recht zu betrachten. Denn wenn die fallführende Zuständigkeit des Jugendamtes gewährleistet ist, dann ist es auch selbstverständlich, dass bei Bedarf die Hilfe von Seiten der Jugendhilfe wieder intensiviert wird.
Bereits im aktuellen § 41 (3) SGB VIII wird Beratung und Unterstützung im notwendigen Umfang als Recht über die stationäre Jugendhilfemaßnahme hinaus geregelt. Hier ist in Anlehnung an § 5 SGB VIII an das Wunsch- und Wahlrecht zu verweisen, welche den jungen Menschen ermöglichen soll, Hilfemaßnahmen zu bekommen, welches sie selbst auch als sinnvoll erachten. Außerdem müssen junge Menschen auf ihr Wunsch- und Wahlrecht und auf Beratungs- und Unterstützungsmöglichkeiten über das 18. Lebensjahr hinaus verbindlich hingewiesen werden.
Zugänge in Wohnraum ermöglichen!
Bislang ist eine zentrale Schwierigkeit im Übergang in ein eigenverantwortliches Leben der Zugang zu bezahlbarem Wohnraum für die jungen Menschen aus der Jugendhilfe. Care Leaver haben auf umkämpften Wohnungsmärkten schlechte Karten.
Für Care Leaver muss daher der Zugang in Wohnraum ermöglicht werden. Über soziale Wohnungspolitik ist die kommunale und private Wohnungswirtschaft zu verpflichten, dass im Wohnungsneubau und bei den Wohnungsbeständen Kontingente für Care Leaver bereitgestellt und langfristig gesichert werden. Desweiteren bedarf es niedrigschwelliger und begleitender Unterstützungsangebote, die freiwillig abgerufen werden können und nicht erst noch beantragt werden müssen. Kein Care Leaver darf aufgrund fehlender Wohnungen bei Verlassen der stationären Jugendhilfe in Notunterkünfte und somit in andere Sozialsysteme abgeschoben werden. Denn auch hier muss die Jugendhilfe zuständig bleiben. Stattdessen sind bei Verlassen stationärer Jugendhilfe nachhaltige und zukunftsfähige Lösungen zu entwickeln und sicherzustellen.
Universalantrag zur Vereinfachung von Antragsstellung!
Bislang ist das Prozedere der Antragsstellung von Transferleistungen für junge Erwachsene nahezu undurchschaubar. Die Anträge sind herausfordernd zu stellen und benötigen den Gang zu vielen verschiedenen Anlaufstellen.
Im Übergang in ein eigenständiges Leben ist die soziale Existenzsicherung als zentral zu bewerten. Dabei sollte die Frage der Finanzen von der pädagogischen Arbeit abgelöst werden.
Ein Universalantrag, der es den jungen Menschen erlaubt, einen Antrag zu stellen, den dann die jeweils unterschiedlichen Behörden untereinander kooperativ abstimmen, wäre hierbei ein Schritt in die richtige Richtung, um eine Vereinfachung im „Antragsdschungel“ zu erzielen. Fragen von Datenschutz müssen hierbei berücksichtigt und geklärt werden.
Kostenheranziehung stoppen!
Bislang müssen junge Menschen in stationären Jugendhilfemaßen bis zu 75% ihres Einkommens abgeben. Damit verbunden entfallen Ansparmöglichkeiten und Care Leaver haben wenig finanzielle Puffer. Darüber hinaus hat die Praxis der Kostenheranziehung einerseits zur Folge, dass junge Menschen die Jugendhilfemaßnahme aus eigenem Willen (um das Ausbildungsgehalt behalten zu können) früher beenden und andererseits bestimmte Bildungswege nicht eingeschlagen werden.
Von der Kostenheranziehung ist daher abzusehen. Statt der Kostenheranziehung sollte es Care Leavern während der Jugendhilfe ermöglicht werden, Gelder anzusparen, die eine bessere finanzielle Ausstattung im Übergang ermöglichen. Im Gegensatz zu vielen anderen jungen Menschen mit unterstützendem Familienhintergrund verfügen Care Leaver häufig nicht über ein – auch finanziell – unterstützendes soziales Netzwerk.
Stattdessen entsteht durch die Kostenheranziehung auch ein Verarmungsrisiko. Langwierige behördliche Bearbeitungsverfahren führen häufig zu vierstelligen Rückforderungsbeiträgen aus der wirtschaftlichen Jugendhilfe, so dass Care Leavern ein guter Übergang verwehrt wird. Diese Benachteiligung ist abzustellen.
Darüber hinaus muss es Teil eines Übergangskonzeptes selbst sein mit Finanzen umzugehen, was ein reflektierter Umgang mit dem Ausbildungsgehalt o.ä. durchaus sein kann.
Mitbestimmung und Selbstorganisation von Care Leavern ermöglichen – Care Leaver in den Jugendhilfeausschuss!
Bislang ist die Partizipation zwar im Rahmen von Hilfeplangesprächen (§ 36 SGB VIII) verankert und während der Zeit in der Jugendhilfemaßnahme sind – zumindest teilweise – Strukturen für Beteiligung im Rahmen von Heimräten und Landesheimräten vorhanden. Eine systematische Möglichkeit zur Mitbestimmung und Selbstorganisation von Care Leavern fehlt jedoch bisher.
Es braucht mehr verbindliche Mitbestimmungsmöglichkeiten im Rahmen der Heimerziehung und bei Pflegefamilien. Ein Weg kann die flächendeckende Einrichtung von (Landes-)Heimräten sein, die dann auch als zusätzliche Beschwerdestrukturen wirksam werden können.
Insbesondere sollten Selbstorganisationen von Careleavern systematisch gefördert und in die Jugendhilfepolitik einbezogen werden. Dafür wäre es hilfreich, wenn Careleaver- Selbstorganisationen einen Sitz in den örtlichen und überörtlichen Jugendhilfeausschüssen bekommen könnten.
Mehr Wissen über das Leben von Care Leavern generieren!
Bislang existiert in Deutschland keine systematische repräsentative Aufarbeitung, was eigentlich aus jungen Menschen wird, die in stationären Jugendhilfemaßnahmen aufgewachsen sind.
Es bedarf daher einer langfristigen Förderung der Forschungsaktivitäten im Bereich Leaving Care, um diese Wissenslücke zu schließen und damit einem ernsthaften Interesse nachzugehen, wie es Care Leavern in Deutschland geht. Darüber hinaus braucht es qualitative Analysen, in denen Care Leaver selbst zu Wort kommen können und im Idealfall – über partizipative Forschungsmethoden – selbst mitgestalten, was und wie geforscht wird.
Zivilgesellschaftes Engagement stärken!
Bislang wird der Übergang von Care Leavern entweder von Seiten der Jugendhilfe begleitet oder es entstehen über Projektförderungen sogenannte Care Leaver Initiativen. Beides ist nicht ausreichend, um jungen Menschen in diesen Schritten zur Seite zu stehen.
Es braucht eine Infrastrukturplanung und -entwicklung für junge Erwachsene, um diesen Übergang gut zu meistern. In diese Infrastruktur kann/muss auch die Zivilgesellschaft mit einbezogen werden. Dies darf nicht in Konkurrenz zur Jugendhilfe und zur staatlichen Verantwortung gedacht werden, sondern in einer guten Ergänzung dazu! In der Gesamtverantwortlichkeit der Jugendhilfe bedarf es hier konzeptioneller Überlegungen und Entwicklungen zur Kooperation mit Zivilgesellschaft.
Wir fordern die Bundesregierung auf, über entsprechende Förderprogramme erfolgreiche Ansätze des Einbezugs von zivilgesellschaftlichem Engagement zu erforschen und geeignete Wege und Möglichkeiten der Umsetzung zu etablieren.
Wir stehen für Rückfragen gerne zur Verfügung und sind gerne bereit an konkreten Überlegungen der Umsetzung dieser Forderungen mitzuarbeiten.
Kontakt:
Wir sind unter folgender E-Mail-Adresse erreichbar: info@careleaverinitiativen.de
Aktuelle Sprecher*innen:
Olaf Sobczak (HOME SUPPORT, Hamburg),
Björn Redmann (Kinder- und Jugendhilferechtsverein Dresden),
Katharina Mangold (Uni Hildesheim)